University Medical Center Göttigen

GENOTYP-PHÄNOTYP BEZIEHUNGEN UND DIE NEUROBIOLOGIE
DES LONGITUDINALEN PSYCHOSEVERLAUFS

Von Familienstudien zu GWAS

Moderne psychiatrische Genetikforschung nach 1945 war hinsichtlich der Erblichkeit schwerer Störungsbilder wie der Schizophrenie oder Bipolaren Störung durch die Untermauerung der Ergebnisse früherer formaler genetischer Studien (z.B. Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien) gekennzeichnet. Nachweislich besaßen diese Störungen eine starke genetische Basis, die Schätzungen zur Erblichkeit beliefen sich auf 50% bis 80%. Diese Ergebnisse beflügelten die Einbeziehung von Kopplungsstudien zur Kartierung chromosomaler Risikobereiche. Gleichermaßen wurde eine große Anzahl an Gen-Assoziationsstudien durchgeführt. Dennoch war das Feld während der Entwicklung statistisch robuster Methoden wie der nichtparametrischen Kopplungsanalyse oder der familienbasierten Assoziationsanalyse durch widersprüchliche Ergebnisse und geringe Replikationsvalidität geprägt. Große multizentrische Studien und Metaanalysen trugen zwar dazu bei, gewisse Kopplungsregionen mit hoher Konsistenz aufzuzeigen, konnten jedoch keine wesentlichen Anhaltspunkte bereitstellen. Ebensowenig konnten im follow-up Feinkartierungen und die Kartierung von Kopplungsungleichgewicht in vielversprechenden Regionen eindeutige Risikovarianten aufzeigen; diese Situation trifft auch auf Studien zu Kandidatengenen zu. Das hier skizzierte Szenario beschränkte sich nicht nur auf psychiatrische Störungen, sondern erwies sich generell als charakteristisch für komplexe Phänotypen.

Im Bewusstsein dieser eher ernüchternden Ergebnisse betraten Wissenschaftler auf dem Gebiet komplexer Genetik das 21. Jahrhundert mit großen Erwartungen an die ständig fortschreitende technologische Entwicklung, welche genomweite Assoziationsstudien (GWAS) eine realisierbare Praxis werden ließ. Nach jahrelangem Sammeln rieser Probenmengen gestattete ein überschaubares Werkzeug die Rasterung und hochdurchsetzte Genotypisierung von bis zu einer Million einzelner Nukleotid Polymorphismusmarker (SNP).

Inzwischen wurden GWAS zu etlichen komplexen Krankheits- und physiologische Charakteristika wie Diabetes Typ I und II, Lungenkrebs, Body-Mass-Index und Adipositas, Erkrankungen der Herz-Kranz-Gefäße, Hypertonie, rheumatische Arthritis, altersbezogene Makuladegeneration, Morbus Crohn, Prostatakrebs, Größe und Pigmentierung sowie Haarfarbe durchgeführt.

Hinsichtlich GWAS zu psychiatrischen Erkrankungen wurden mittlerweile etliche Großstudien zur Bipolaren Störung veröffentlicht, ähnlich verhält sich die Situation bei der Schizophrenie.

Angesichts dieser Ergebnisse zeugen GWAS zu komplexen Erkrankungen eindeutig von Erfolg, da hierdurch etliche Risikogene identifiziert und repliziert werden konnten. Hinsichtlich der Bipolaren Störung ließen sich DGKH (Diacylglycerol kinase eta), CACNA1C (calcium channel, voltagedependent, L type, alpha 1C subunit) und ANK3 (Ankyrin 3) über verschiedene untersuchte Samples als assoziiert nachweisen. Das Gen ZNF804A, welches ein Zink Finger Protein kodiert, erwies sich als assoziiert mit Schizophrenie und Bipolarer Störung. Jüngste Studien entdeckten genomweite signifikante SNP-Assoziationen in der Region des erweiterten Haupthistokompatibilitätskomplexes auf Chromosom 6. Die genannte Studie berichtete außerdem eine genomweit signifikante Assoziation mit Markern im neurogranin (NRGN) und den Transskriptionsfaktor 4 (TCF4) Genen.

Die oben genannten Ergebnisse wurden auf allgemein akzeptiertem Signifikanzniveau beobachtet (p < 10-7). Im Vergleich mit der größeren Anzahl replizierter Funde bei somatischen Störungen und Charakteristika mag der Ertrag von GWAS bei psychiatrischen Störungen für Wissenschaftler außerhalb dieses Forschungsfeldes entmutigend wirken. Dennoch haben uns GWAS bei psychiatrischen Störungen Wichtiges gelehrt: Zunächst wäre da einmal die nachgewiesene polygenetische Natur psychiatrischer Störungen, desweiteren die Tatsache, dass GWAS-Ergebnisse - vorausgesetzt, dass die vorgenannten Gene nicht als "normale oder voraussichtliche Verdächtige" erachtet werden können - unsere Theorien über die wahrscheinliche molekularbiologische Basis der Psychopathologie erweitern, drittens das Risiko, eine "Top-Hits-Only"-Strategie zu verfolgen, und viertens die Auffassung, bei der allelischen Heterogenität handele es sich um einen wichtigen Faktor der komplexen Genetik. Schließlich und endlich haben uns GWAS mit einer verwirrenden Realität konfrontiert: Hinsichtlich aller durch GWAS untersuchten Phänotypen gilt, dass die identifizierten Varianten nur einen kleinen Bruchteil der genetischen Variabilität ausmachen, dies gilt sogar für Merkmale wie die Körpergröße Erwachsener, wozu zahlreiche GWAS mit riesigen Samples durchgeführt wurden. Dieses Phänomen wurde bekannt als der "Fall der fehlenden Erblichkeit".

Der "Fall der fehlenden Erblichkeit" und seine Konsequenzen für zukünftiges Vorgehen in der biologisch- psychiatrischen Forschung

Das zuvor beschriebene Szenario könnte den Eindruck erwecken, GWAS hätten versagt und die Genetik komplexer Störungen sei zu vielschichtig, um jemals verstanden zu werden und dass sie deshalb gänzlich aufgegeben werden sollten. Dennoch ist sich die wissenschaftliche Gemeinde weitgehend einig, dass wir bislang noch nicht alle möglichen Ansätze ausgeschöpft haben: durch GWAS wurden Risikovarianten identifiziert, diese müssen nun in ein Netzwerk komplementärer Ansätze eingebunden werden. Hinsichtlich psychiatrischer Störungen benötigt ein solches Netzwerk den vollen Umfang klinischer und molekularbiologischer Techniken und Strategien. Dieses beinhaltet Genomik und Epigenomik, Phänomik, Neurobiologie und die Erforschung von Umwelteinflüssen.

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Last update:
21.11.2013